Historische Obstsorten in unserer Region
„Die Lokalsorten sind selbstredend beizubehalten“
Freiherr von Berlepsch, Kaiser Wilhelm, Uelzener Kalvill, Minister von Hammerstein, Uelzener Rambur – es waren Apfelbäume mit klangvollen Namen, die da in früheren Jahrzehnten in großer Zahl die Straßen und Wege unserer Region säumten und die Gärten schmückten. Heute ist von dieser Pracht nicht mehr viel übrig geblieben.
Apfelallee südlich von Schlieckau. Foto: Grottian
1955 standen im Landkreis Uelzen noch rund 40.000 Obstbäume an öffentlichen Straßen und Wegen. Meist waren es Apfelbäume, aber auch Pflaumen-, Birnen- und Kirschbäume waren darunter. Die Birnbäume trugen dann Namen wie Williams Christbirne, Köstliche aus Charneux oder Gräfin von Paris, während die Pflaumen Emma Leppermann, The Czar oder einfach Blaue Hauszwetsche hießen.
Sortenreichtum
Im Vergleich zur spärlichen Auswahl heutiger Supermärkte war die Sortenvielfalt früherer Jahrzehnte überwältigend. Die meisten dieser Sorten stammen aus dem 19. Jahrhundert, einer Zeit, in der es kaum Alternativen zum heimischen Obst gab. So sollen 1866 auf einer Obstausstellung in Lüneburg über 900 Apfelsorten ausgestellt worden sein. Und noch das „Preis- und Sortenverzeichnis“ der Baumschule Zinsser von 1955 umfasste 125 Apfel- und 79 Birnensorten.
Vom Juli bis in den Mai
Neben Apfelsorten, die bereits ab Ende Juli verzehrt werden konnten (und sollten), wie der Klarapfel oder die Frühe Viktoria, gab es spätere Sorten, die ebenfalls innerhalb weniger Monaten verwertet werden sollten. Beispiele sind die immer noch bekannten Sorten Gravensteiner und James Grieve. Und schließlich gab es Lageräpfel, die bis April, ja sogar bis in den Mai hinein lagerfähig waren. Beispiele sind der Ontario, der Uelzener Kalvill oder die Rote-Stern-Renette. Und natürlich sollten die Sorten auch mit den jeweiligen Boden- und Klimaverhältnissen zurechtkommen.
Die „40-Pfennig-Theorie“
So faszinierend uns heute der Sortenreichtum früherer Zeiten erscheint – Zeitgenossen waren nicht immer uneingeschränkt begeistert.
So schrieb Julius Schauwecker, seines Zeichens Kreisobstgärtner des Landkreises Uelzen, 1914 in einem Artikel über den Obstbau: „Der Obstbau an Landstraßen und an Gemeindewegen ist [...] in sachgemäßere Bahnen gelenkt worden [...]. Dadurch, daß man jedem Geschmack Rechnung tragen zu müssen glaubte, wurden die [...] Wegstrecken mit unzähligen Sorten bepflanzt; daher konnte von einer Einträglichkeit kaum eine Rede sein, und es mag für solche Strecken die 40-Pfennig-Theorie, d.h. die Berechnung, daß ein Straßenbaum durchschnittlich nur 40 Pfennig einbringt, zutreffen, nicht aber für Strecken, die mit wenigen, aber geeigneten und reichtragenden Sorten bepflanzt wurden.“
Ebenfalls 1914 schrieb Obstbauinspektor Huber, Hannover, man sei schon seit Langem bestrebt, „diesen Sortenreichtum möglichst einzuschränken und eine zielbewusste Sortenauswahl in der Provinz [Hannover, Anm.] einzuführen.“ Aber auch Huber wusste den Wert regional angepasster Sorten zu schätzen und betonte: „Die Lokalsorten, die sich in bestimmten Gegenden gut bewährt haben, sind selbstredend beizubehalten.“
Die Apfelsorte „Kaiser Wilhelm“ (auch „Wilhelmapfel“) war auch in unseren Obstbaumalleen vertreten. Foto: Obstsortendatenbank BUND Lemgo
Sorten an historischen Alleen
Trotz dieser Bemühungen konnten die Obstbaumalleen unserer Region wohl immer noch eine beachtliche Vielfalt an Sorten aufweisen. Doch welche Sorten dort jeweils wuchsen, können wir in vielen Fällen nicht mehr sagen, weil die meisten historischen Alleen inzwischen verschwunden sind. Allerdings geben uns die noch vorhandenen vermutlich recht sichere Anhaltspunkte. Da hier der Uelzener Rambur ein Drittel der Apfelbäume ausmacht, wird dies vermutlich auch in den untergegangenen Alleen der Fall gewesen sein.
Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts hat Jörg Grützmann die noch vorhandenen Obstbaumalleen unseres Landkreises kartiert und dabei auch deren Sorten bestimmt. So standen zu dieser Zeit (2005/2006) an der Straße von Suhlendorf nach Batensen noch über 40 Obstbäume. Neben dem Uelzener Rambur waren der Uelzener Kalvill, die Goldparmäne und Kaiser Wilhelm sowie der Schöne von Boskop vertreten. Wer sich diese Allee heute ansehen möchte, wird nicht fündig werden. Alle Obstbäume wurden kurz nach ihrer Kartierung gefällt.
Der Uelzener Rambur war auch die häufigste Sorte an der Straße von Bollensen nach Emern. Daneben standen dort einige Celler Dickstiel, einige Ontario und Goldparmäne, eine Coulons Renette und ein Altländer Pfann‧kuchenapfel. Reste dieser Allee existieren bis heute, doch hat auch sie in den letzten Jahrzehnten stark gelitten.
Untergang der historischen Alleen
Ohnehin musste Grützmann schon 2006 beklagen, dass viele Bestände, die noch in den 1990er-Jahre existiert hatten, seit der Jahrtausendwende untergegangen waren. Zwar seien zwischenzeitlich an verschiedenen Orten neue Pflanzungen entstanden, aber häufig habe in der Folgezeit keine ausreichende Pflege mehr stattgefunden.
Als die Obstbaumalleen dieser Region vor über 100 Jahren angelegt wurden, tat man dies vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Man wollte Obst verkaufen und Geld verdienen (siehe Wipperau Kurier 2/2022). Heute fehlt dieser wirtschaftliche Anreiz, und die Pflege der Obstbäume an Wegen und Straßen wird vor allem als Kostenfaktor wahrgenommen. Dass mit dem Verschwinden dieser Bäume neben den historischen Sorten auch Lebensräume für viele Tierarten verloren gehen, fällt dabei häufig nicht genug ins Gewicht.
Aber wir leben ja in Zeiten, in ‧denen wir vieles neu bewerten – vielleicht auch den Wert unserer historischen Obstsorten und Obstbaumalleen.
tg
Arbeiterinnen der Baumschule Hinrichs (heute Pur Natur), Holdenstedt. Foto: Museumsdorf Hösseringen