Wipperau-Kurier

Die Wahrheit auf engstem Raum

„Des Kaisers neue Kleider“ an der Freien Bühne Wendland


Man muss sich auf den Weg machen, um dieses Theater zu sehen. Bis nach Lüchow-Dannenberg, ins Wendland, dorthin, wo Rundlingsdörfer das Landschaftsbild prägen. Dass hier in Platenlaase, auf einer Bühne von kaum mehr als Zimmergröße, Hans Christian Andersens „Des Kaisers neue Kleider“ gespielt wird – klug bearbeitet, präzise inszeniert und mit einer Spielfreude, die man an großen Häusern mitunter vermisst –, ist zunächst eine Überraschung. Wie sehr diese Aufführung trägt, überzeugt und nachhallt, ist dann eine kleine Sensation.

Die Inszenierung der Freien Bühne Wendland, in der Regie von Caspar Harlan und Kerstin Wittstamm, nimmt das Märchen ernst – nicht als Kindergeschichte, sondern als Parabel über Macht, Überheblichkeit, Selbsttäuschung und soziale Verachtung. Das Dorf neben dem Schloss ist kein pittoresker Hintergrund, sondern ein Ort der Geringschätzung: Die Dorfbewohner gelten als dumm, verzichtbar und als jene, denen man noch das Letzte nehmen kann, um die Eitelkeiten des Hofes zu finanzieren. Der Skandal, dass der Kaiser ausgerechnet ihnen die letzten Mittel entziehen will, um sich neue Kleider anzuschaffen, bildet das moralische Zentrum dieser Inszenierung.

Ensemble glänzt mit Spielfreude und Leichtigkeit


Christian Bruhn überzeugt in der Doppelrolle als Vater von Jule und als Kämmerer des Kaisers: ein Mann, der Zahlen kennt, Zusammenhänge versteht – und dafür bestraft wird. Die Szene, in der er dem Kaiser die Leere der Staatskasse erklärt und dafür im Kerker landet, spricht Bände: Macht duldet keine Wahrheit, die dem schönen Schein widerspricht.

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Jules Vater mit ihr im ernsten Gespräch.


Carolin Serafin wechselt ebenso selbstverständlich zwischen ihren Rollen als Jules Mutter und als Kapitän von der Hacke, der mit einer Schiffsladung Stoffe anlandet – darunter jener berühmte unsichtbare Stoff, der nur von denen gesehen werden kann, die ihrem Amt gewachsen sind. Serafin verleiht beiden Figuren Kontur, ohne sie auszustellen: pragmatisch, wach und mit einer Prise Captain Hook.

Die Inszenierung vertraut auf Sprache, Kunst und Körper der Spielenden. Das Bühnenbild ist minimalistisch, die Ausstattung aus Rücksicht auf die kleine Bühne zurückgenommen – umso stärker treten Gestik, Mimik und Timing hervor. Besonders eindrucksvoll ist Kerstin Wittstamm als Hofnärrin. Formal eine Nebenfigur, spielt sie sich ins Zentrum des Abends. Wittstamms Mimik und Wortspiel sind präzise und ihre Gesten von einer Lässigkeit, die das Publikum in den Bann zieht. Diese Hofnärrin kommentiert, unterläuft, spiegelt – und öffnet zugleich Denk- und Spielräume für die anderen Figuren.

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Die Hofnärrin ganz in ihrem Element.


Lola Wittstamm spielt die Jule mit Präsenz und Ausdruckskraft, offen, aufmerksam und beweglich. Sie soll dem Kaiser neue Kleider schneidern und tritt doch für die Gleichheit

aller Menschen ein – egal ob Kaiser oder Dorfbewohner. Das Zusammenspiel zwischen Kerstin und Lola Wittstamm schafft die stärksten Momente des Abends.

Ben Lanz gibt Piet, Mitglied der Familie Bundschuh, die wegen ihres Widerstands vom Kaiser gesucht wird. Er verleiht dieser Figur Haltung und Charakter, ohne Pathos. Auch hier zeigt sich die Stärke der Inszenierung: Niemand spielt „groß“, alle spielen miteinander.

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Jule und Piet schmieden Pläne.


Für Kinder und Erwachsene


Dass diese Aufführung für Kinder wie für Erwachsene funktioniert, ist kein pädagogischer Kunstgriff, sondern Ergebnis einer klaren Haltung. Das Märchen bleibt verständlich, aber nicht harmlos. Die kleinen Zuschauer lachen, die großen erkennen sich – und ihre Zeit – wieder. Am Ende verlassen alle das Theater mit jenem leisen Nachhall, der gute Abende auszeichnet: „Und die Moral von der Geschicht: Kaiser – und heute sogar Präsidenten – sehen die Wahrheit manchmal nicht …“

Dass eine solche Inszenierung im Wendland entsteht, ist kein Zufall, sondern Ausdruck jahrelangen Engagements, das sich statt an Reichweiten an künstlerischem Anspruch orientiert. Die Freie Bühne Wendland zeigt, was möglich ist, wenn Theater nicht verwaltet, sondern gewollt wird. Man muss sich nur auf den Weg machen …

cwk



INFO:

Die Freie Bühne Wendland ist ein freies Theaterkollektiv aus dem Wendland. Gegründet wurde es 2011 von professionellen Künstlerinnen aus Theater, Film und Theaterpädagogik. Heute arbeitet ein Kernteam von sieben Mitgliedern, das je nach Produktion durch weitere Künstlerinnen ergänzt wird. Obwohl die Gruppe kein festes Theaterhaus hat, gilt Platenlaase als wichtiger Mittelpunkt ihrer Arbeit. Darüber hinaus bespielt die Freie Bühne Wendland unterschiedliche Orte in der Region – von Kulturstätten bis zu ungewöhnlichen Spielorten wie leerstehenden Gebäuden oder Dorfplätzen – und tritt auch überregional auf.