Mehr Mobilität – mit weniger Verkehr!
Warten, dass die große Politik handelt? Kommunale Verkehrspolitik ist der Schlüssel zur Klimawende! Im Gegensatz zu den Städten fehlt es auf dem Land an ÖPNV. Welche Möglichkeiten haben die Kommunen, um ländlichen Nahverkehr zu stärken? Klar definierte Ziele, orientiert an guten Beispielen, sind entscheidend, um die Mobilität von morgen sinnvoll zu gestalten.
Als Fachverlag für Schienenverkehr und ÖPNV beschäftigen wir uns in unseren Beiträgen und Publikationen seit Jahren mit der Verkehrspolitik auf Landes-, Bundes- und Europaebene. Im Austausch mit Fachleuten und Politikern zeigt sich: Angesichts der Klimaproblematik und notwendigen Verkehrswende ist es klug, nicht nur auf die große Politik zu setzen, sondern rasch die Möglichkeiten auszuloten, die sich Städten und Dörfern bietet, eine eigene „kommunale Verkehrspolitik“ zu betreiben.
Das mag ungewohnt klingen – haben doch in den vergangenen Jahrzehnten kleine Kommunen eine stetige Erosion ihrer Selbstbestimmtheit erfahren und erheblich an Handlungsfähigkeit eingebüßt: Dörfer haben große Teile ihrer Infrastruktur verloren, der lokale Einzelhandel ist verschwunden, Schulen wurden geschlossen und zusammengelegt, große zentrale Verwaltungen aufgebaut. ‧Alles Maßnahmen, die die Mobilität der Menschen eingeschränkt und im Ergebnis jede Menge Verkehr produziert haben.
Ausgerechnet der Klimawandel scheint zu einem „kommunalen Empowerment“ zu führen: Wenn die Gemeinden in Deutschland und Europa eine örtlich eigenständige, umweltschonende, sozial gerechtere Verkehrspolitik betreiben, die mehr Mobilität mit weniger Verkehr verbindet, ist dies ein Schritt gegen den Klimawandel, der zugleich die Lebensqualität auf dem Lande erhöht.
Mobilität ist nicht nur ein Teil unseres Wohlstands, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe!
Wie sehr sich unsere Mobilität seit Ende des Zweiten Weltkriegs verändert hat, zeigt ein Blick in die Statistik: Bis Ende der 1950er-Jahre spielten ÖPNV und SPNV noch eine wichtige Rolle im Leben der Menschen. Ab 1960 stiegen immer mehr auf den Pkw um, was zu Suburbanisierungen führte – einer Entwicklung, die mit ‧einer stärkeren räumlichen Trennung von Arbeit und Wohnen einherging und die Erbringung öffentlicher Verkehrsleistungen für die Kommunen immer teurer machte.
Verkehrspolitik geht klüger!
Doch das Blatt wendet sich. Viele Städte und Kommunen können mittlerweile als Vorbilder für eine kluge Verkehrspolitik dienen, dies zeigen Beispiele aus der ganzen Welt: Amsterdam hat das wohl europaweit innovativste Konzept für verkehrsberuhigte Straßen und Radwege entwickelt, in Osnabrück haben Fahrräder mittlerweile Vorrang vor Autos, und Singapur verfügt über eines der besten U-Bahnnetze der Welt – sauber, schnell, effizient und nachhaltig. In Freiburg wird jeder dritte Weg mit dem Fahrrad zurückgelegt, Wohnanlagen müssen hier wettergeschützte Stellplätze für Fahrräder vorhalten. In Berlin ist die Anzahl der Pkw in Relation zur Einwohnerzahl niedriger als in jeder deutschen Großstadt und zugleich werden bundesweit nirgendwo mehr Wege mit dem öffentlichen Verkehr zurückgelegt als in der Bundeshauptstadt! München hat bundesweit bei Leihfahrrädern und barrierefreien Haltestellen im ÖPNV die Nase vorn und Köln will zukünftig für Wohnungen ab 40 Quadratmeter Wohnfläche einen Fahrradstellplatz bauen. Diese Liste ließe sich noch beliebig verlängern. Sie zeigt: Verkehrspolitik geht auch anders – nämlich klüger!
Mobilität neu denken
Wenn wir an Mobilität denken, dann denken viele zuerst an das Auto, das Flugzeug und dann vielleicht noch an das Fahrrad und den öffentlichen Verkehr – zu dem auch der Schienenverkehr gehört. Doch Mobilität ist mehr, als nur von A nach B zu kommen. In Zeiten der Verkehrswende müssen wir Mobilität neu denken, und unsere Fantasie reicht dafür oft nicht aus, sagt Prof. Dr. Udo Becker, Verkehrsökologe an der TU Dresden. Für Becker umfasst Mobilität auch eine nachhaltige Stadtentwicklung, die Raumordnungsplanung in den Kommunen, moderne Konzepte für die Nahversorgung und selbst die Schul- und Bildungspolitik.
Was hat die Schul- und Bildungspolitik mit der Verkehrswende zu tun? Sehr viel! Denn zum einen müssen Schulen wieder so erreichbar werden, dass Schülerinnen und Schüler möglichst kurze Schulwege haben, und zum anderen müssen Schulen diese neue Form von Mobilität vermitteln können. Und das gilt nicht nur für Grundschulen! Die Lehrpläne für Speditionskaufleute sehen zum Beispiel kaum noch Lehrstoff für die Bahnlogistik vor; Verwaltungsfachangestellte können sich auf die Fachrichtung Straßenbau spezialisieren, aber nicht auf den Bereich Schienenverkehr – und für die Ausbildung von Betriebs‧eisenbahnern gibt es keine adäquaten Berufsschulangebot.
An welchen Leitbildern und konkreten Handlungszielen soll sich die kommunale Verkehrsplanung künftig orientieren, welche Vorbilder, Ideen und Praxisbeispiele gibt es? Die Literatur hierzu ist noch sehr spärlich.
Was ist kommunale Verkehrspolitik?
Im Jahr 1999 definierte Dr. Dieter Apel kommunale Verkehrspolitik als „alle Maßnahmen einer Gemeinde, die geeignet sind, um das Verkehrsgeschehen zielorientiert zu beeinflussen“ (Apel: Kommunale Verkehrspolitik, in: Wollmann/Roth (Hgg.): Kommunal‧politik, Wiesbaden 1999, S. 599). Nach dieser Definition reicht das Handlungsfeld von der Verkehrsplanung bis zur Aufstellung von Verkehrsschildern oder der Programmierung von Verkehrs‧ampeln. Diese Begriffsbestimmung ist nicht falsch, aber noch sehr am Bild des Straßenverkehrs orientiert.
Udo Becker (vgl. Interview unten) spannt einen deutlich größeren Bogen und fasst darunter alles, was Kommunen tun können, um die Mobilität ihrer Einwohner zu beeinflussen, auch Schulstand‧orte und die Einzelhandelspolitik.
Keine einfache Lösung
Doch ganz so einfach ist die ‧Sache mit der kommunalen Verkehrspolitik nicht: Städte und ‧Gemeinden müssen bei der Ausgestaltung ihrer Verkehrsräume das Straßenverkehrsrecht beachten. So legt Paragraf 45 der Straßenverkehrsordnung fest, dass Tempo 30 nur abschnittsweise und bei konkreten Gefährdungen gelten darf, etwa vor Kitas oder Schulen. Eine Regelung, die den Kommunen enge Grenzen setzt und die Einführung von Tempo‧limits nur dann erlaubt, wenn ‧Gefährdungen nachgewiesen werden können.
Doch auch hier gibt es mittlerweile Bewegung, immer mehr Städte und Gemeinden schließen sich der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ an. Dieses Bündnis, 2021 von sieben Großstädten gegründet, fordert Handlungsfreiheit: Die Städte wollen Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit überall dort anordnen können, wo sie es für notwendig halten.
Mittlerweile haben sich mehr als 600 Städte, Gemeinden und Landkreise der Initiative angeschlossen. Christian Hochfeld, Direktor des Thinktanks Agora Verkehrswende, sieht die Initiative als starkes Zeichen für den Gestaltungswillen der Kommunen und den Wunsch, zukünftig mehr kommunale Verkehrspolitik zu wagen. Hochfeld: „Städte und Gemeinden können die Lage vor Ort am besten einschätzen. Viele sind bereit, die Verkehrswende anzugehen. Es liegt jetzt an der Bundesregierung, ihnen dafür mehr Freiheit zu geben.“
Stimmen aus der Lokalpolitik
Uelzens Landrat Dr. Heiko BlumeAuch im Einzugsgebiet des Wipperau-Kuriers zeigt sich dieser Trend. Die Landkreise Uelzen und Lüchow-Dannenberg wollen einiges verändern, um ihren ‧Bürgerinnen und Bürgern umweltfreundliche Mobilität zu ‧garantieren.
„Der Regionalbusverkehr ist ein wesentlicher Teil der Mobilität. Er ist gerade in ländlich geprägten Räumen das Rückgrat des ÖPNV“, erklärt Uelzens Landrat Heiko Blume. „Neben der Schülerbeförderung sollte er in Zukunft noch mehr die Belange der Bevölkerung aufnehmen und wird damit elementarer Baustein der Versorgung des ländlichen Raumes. Bestandteile des Regionalverkehrs werden neben vertakteten Bus‧linien auch Verkehre des On-Demand-Verkehrs – wie zum Beispiel Anruft-Sammel-Taxen – sein, um eine Feinerschließung zu gewährleisten. Mit der Fortschreibung seines Nahverkehrsplans wird der Landkreis Signale in diese Richtung setzen.
Ich strebe die vollständige Einbindung in den Hamburger Verkehrsverbund an.
Wenn die Zuverlässigkeit des Angebots weiter verbessert wird und die Neuvergabe der Leistungen im Jahr 2026 zusätzliche Möglichkeiten schafft, dann ist der Landkreis für die Zukunft gut gerüstet. Bei all dem gilt, dass auch die finanziellen Möglich‧keiten des Landkreises Uelzen als einer der dünnstbesiedelten Regionen in Niedersachsen im Blick zu behalten sind.“
Dagmar Schulz, Landrätin des Landkreises Lüchow-DannenbergAuch Dagmar Schulz, Lüchow-Dannenbergs Landrätin, bestätigt: „Das sind Themen, mit ‧denen sich die Verwaltung tagtäglich beschäftigt. Für die Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben ist ein funktionierender ÖPNV Voraussetzung. Kinder und Jugendliche, die einen Anspruch auf eine durch den Landkreis ‧finanzierte Schülerkarte haben, können damit kostenlos in den Bussen im gesamten Landkreis Lüchow-Dannenberg fahren.
Ein günstiges Ticket alleine hilft nur bedingt, wenn zu wenig Busse fahren. Darüber hinaus braucht es auch mehr Bewusstsein bei den Menschen für die Notwendigkeit, selbst etwas zum Klima‧schutz beizutragen. Wir sind eine Art Labor: Die Probleme in ländlichen Räumen, etwa weite Wege, geringe Einwohnerzahl, spiegeln sich in Lüchow-Dannenberg wider. Wir machen uns auf den Weg für eine bessere Taktung der Busverbindungen und einen bezahlbaren ÖPNV. Es sind viele kleine Schritte, aber wir kommen gut voran.“
cwk